von Ouhi Cha
Acryl/Kohle/Lw: 145 x 181 cm
Eisenrahmen: 147,5 x 183,5 cm
Provenienz: Ouhi Cha, Berlin 1983
Ausstellung: Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1982/83
Preis auf Anfrage
In und aus der Balance
Ein weißgetöntes Dreieck auf einem braungefleckten Hintergrund, an drei Rändern ein ungleichmäßiges, schwarzes Strichband und schließlich ein schräger Strich in Gegenrichtung des rechten Schenkels. Auf den ersten Blick erscheint das Gemälde von Ouhi Cha als ein Sinnbild für Harmonie und Ausgewogenheit. Doch woraus bezieht das Werk seine Irritation und Spannungskraft?
Auffällig ist zunächst, dass die Künstlerin davon abgesehen hat, die Fläche des Gemäldes zu grundieren. Allein unterschiedliche, nach oben dunkler werdende Brauntöne bilden den Untergrund, der weiterhin die Leinwand zum Vorschein bringt. Darüber hat die Künstlerin unzählige Tropfen verteilt, die die Fläche wie ein ungeordnetes, von der Natur gebildetes Chaos strukturieren. Feinste, teils gebogene, teils gerade Kohlestriche, oft in Rhombenform, gelegentlich als Schraffuren, dann wieder von dickeren Strichen unterbrochen, erzeugen einen Blick wie in einen Spinnwebwald. Das Auge versucht sich zu orientieren und verirrt sich im Unendlichen.
Den Bildraum bestimmt das mit der Spitze nach oben gerichtete Dreieck, das ähnlich wie die braunen Grundierungen nicht als einheitlicher Korpus, sondern in zarten, verschieden verflüssigten Weißtönen erscheint. Die Ränder links und rechts fransen aus, die unteren Spitzen verdünnen sich im Braun des Untergrundes. Es gibt kein bestimmendes Weiß, nur ein durchbrochenes, an manchen Stellen sogar durch Striche und Flecke unterlegtes Weiß. So ausgeglichen das Bild mit größerem Abstand erscheint, so irritierend wirkt es, wenn man dichter davorsteht. Irritation wird auch dadurch erzeugt, dass es sich bei dem Dreieck nicht um eine gleichschenklige Form handelt, sondern dass die Unterseite um ein gutes Stück verkürzt ist. Und nicht nur das. Die geometrische Form, die das Auge so gerne in der Mitte gesehen hätte, befindet sich ein gutes Stück auf der rechten Seite.
Die eigentliche Desorientierung aber erreichen jene schon erwähnten Strichbänder rechts von dem Dreieck und an den Rändern des Bildes. Die schwarzen, breiten Linien wirken wie auf die Leinwand gesprüht und erzeugen insgesamt einen unruhigen Charakter. Die rechte, frei im Raum schwebende Linie nimmt weder von der Länge noch vom Winkel die Schenkel des hellen Dreiecks auf, sodass nicht ein Ausgleich, sondern eher ein Spannungsverhältnis hervorgerufen wird. Noch mehr wird die Balance des waagrecht zum unteren Rand gemalten Dreiecks durch das unterseitige Strichband beeinträchtigt. Es verläuft zunächst von rechts nach links parallel zum Rand, um dann von der Mitte bis zur linken Begrenzung leicht schräg nach oben zu führen. Auf diese Weise scheint das Dreieck immer in Gefahr, zu kippen. Das Auge verliert den Halt, so als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Verstärkt wird die Verunsicherung durch die außergewöhnliche Rahmung des Bildes, die nicht wie gewohnt im rechten Winkel erfolgt, sondern als Parallelogramm mit einer leichten Neigung nach rechts.
Indem Ouhi Cha eine dreieckige Form in einem offenen Raum lediglich andeutet und unmerklich ihrer festen Substanz entkleidet, verweist sie auf Fragilität als Zustand, der der steten Auseinandersetzung bedarf. Ihre zarten, über das ganze Bild gelegten Striche und Linien, wie auch die härter bestimmenden, brechen die herkömmlichen Vorstellungen von Harmonie. Die Farbsprengsel im Hintergrund halten die Komposition in ständigem Schweben. Der Mensch kann sich im immerwährenden Balanceakt verlieren, er hat aber das Potenzial, sich zu behaupten und wiederzufinden. Balance, so der künstlerische Ansatz, stellt sich nicht selbstverständlich her. Sie muss aktiv erarbeitet werden. So wie ein Tänzer jahrelang übt, um mit scheinbarer Leichtigkeit ein Seil zwischen zwei Türmen zu überschreiten.
Text: Michael Drechsler