von Bernard Matemera
Bildhauer, Simbabwe
Steinskulptur
Brown Serpentine, 24,5 x 19 x 30 cm, 15 kg
Provenienz: Bernard Matemera, Tengenenge, Simbabwe 1991
Verkauft
Blindheit als Gleichnis
Matemera gehörte zu den Mitbegründern der modernen Bildhauerkunst in Simbabwe. Ein zentrales Motiv seines Schaffens ist die Blindheit. Dabei interessierte ihn das Nicht-Sehen-Können als realer Zustand wie auch als Metapher. So steht die Blindheit für das Unvermögen der Menschen, die reale Wirklichkeit wahrzunehmen und daraus Schlüsse für ihr Leben zu ziehen. Welche Intentionen bewegen Künstler wie Matemera und Dichter, die sich dem Thema der körperlichen und geistigen Blindheit zu widmen?
Auf meine Frage, warum er immer wieder blinde Menschen zeige, antwortete Matemera:
"Das ist ein Sinnbild für folgende Begebenheit: Ich selber ging nicht in die Schule, was so viel heißt, dass ich nicht lesen kann. Ich bin also blind. Blind ist ein Mann oder eine Frau, der oder die keine Augen hat. Wenn du nicht lesen kannst, bist du blind. Du kannst nicht erkennen, was du siehst... Doch ich kann etwas tun, was dich erstaunen und ausrufen lässt: 'Oh, was ist das?'" 1
In seiner Anmerkung zur Skulptur „Blind Head“ spricht Matemera vom Menschen als einer Gestalt, die von Blindheit geschlagen sein kann, wie von sich als Künstler, der von seiner körperlichen und geistigen Beschränktheit weiß und es gleichwohl vermag, anderen die Augen zu öffnen.
Teiresias, der blinde Seher
Von der erstaunlichen Fähigkeit blinder Seher berichten schon die Mythen des antiken Griechenland. Der greise blinde Teiresias verfügt über prophetische Gaben. Als Priester geadelt und als hoher Gelehrter anerkannt, wird er zu Rate gezogen, wenn es um die wichtigsten Entscheidungen für das Wohl des politischen Gemeinwesens geht. Und er besitzt die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen. Aber selbst die höchsten Fürsten wie Ödipus, Kreon oder der „gottlose“ Pentheus zweifeln an seinen tieferen Erkenntnissen. Sie wollen die Wahrheit nicht wissen.
Ödipus, Mörder seines Vaters Laios und Gatte seiner Mutter Jokaste, ruft Teiresias zu sich, um den Tod seines Vaters zu ergründen. Als dieser sich weigert, den König von Theben mit der grausamen Wahrheit zu konfrontieren, verhöhnt der Herrscher seine Blindheit. Darauf entgegnet der Seher:
„Du hast zwar Augen und siehst doch nicht, wie tief du steckst im Übel,
nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du hausest.
Weißt du, von wem du stammst? Ahnungslos bist du ein Feind
den Deinigen da unten und oben auf der Erde,
und doppelt treffend jagt dich einst aus diesem Land
furchtbaren Fußes der Mutter und deines Vaters Fluch,
dich, der jetzt noch volle Sehkraft hat, doch dann nur Dunkel sieht...“ 2
Im Drama von Sophokles sticht Ödipus sich die Augen aus, nachdem ihm seine schicksalhaften Verstrickungen zur Gewissheit geworden sind und Jokaste, seine Gattin und Mutter, sich erhängt hat. Von nun an begleiten ihn seine Töchter Antigone und Ismene, bis er, gealtert und weise, friedvoll Abschied nehmen kann vom Erdendasein. Später weigert sich auch Kreon, der Nachfolger Odysseus, allzu lange, den Rat des weisen Teiresias anzunehmen.
Die Stadt der Blinden
In der Gegenwartsliteratur ist „der Blinde nicht von Hause aus blind, doch ist er’s mit leichter Mühe geworden“.3 Nicht wenige Schriftsteller rücken den Zustand Blindheit ins Schillernde, um der Welt einen Spiegel vorzuhalten. Auf die Verblendung und das Pharisäertum, von denen das blinde Walten unserer heutigen Gesellschaft befallen sind, zielt José Saramago in seinem Roman „Die Stadt der Blinden“. 4 Eine Stadt gerät ins Chaos, weil Bewohner plötzlich von einer epidemieartigen Blindheit erfasst werden. Die Stadtregierung weiß sich nicht anders zu helfen, als diese Blinden brutal einzusperren und ihrem Schicksal zu überlassen. Sie müssen ein Fegefeuer als Gefangene ihres asozialen Verhaltens und ihrer Ignoranz durchleiden. Erst nachdem sie dieses Tal der Tränen durchschritten haben, fallen die oberflächlichen Beziehungen und der weiße Film von der Netzhaut der Stadtbewohner. Erst wenn der Mensch an den Abgrund gerät, öffnet er sich für das Abweichen vom „Normalen“, für das Überschreiten der Grenzen. Blindheit gerät hier zur Voraussetzung, die Welt im Gegenlicht neu erkennen und zu interpretieren.
Hervé Guibert schreibt in seiner aufregenden Erzählung „Blinde“:
„Was haben die heute bloß alle, sehen die nicht, daß wir nicht sehen? sagte Josette zu Robert, als sie nach Hause kam. Weißt du, was ich heute gehört habe? sagte Robert. Einen Typen, der hinter meinem Rücken sagte: Ich mag diese jungen Leute mit ihren schwarzen Brillen nicht, das wirkt so unehrlich.“ 5 Und weiter: „Er hatte nie gehofft, daß seine armseligen Gucklöcher, die offen zur Welt waren, sich wie durch ein Wunder vergrößern könnten: Er dachte nur daran, sie zu vermauern. Er trug eine dicke, undurchdringlich schwarze Brille.“ 6
Blind sind nicht die Blinden, sondern die Sehenden. Jene schaffen sich ein verlogenes Bild von der Welt. Sie häufen nutzloses Wissen an und verehren als Schönheit, was „weniger als der Wind ist“.6 Um die Charakterlosigkeit der Nicht-Blinden zu charakterisieren, stellt Guibert einen Philosophielehrer vor, der die blinden Schüler trietzt, indem er ihnen immer wieder Aufgaben stellt, die mit dem Sehvermögen zu tun hatten: „Kann die Sonne sich, wie der Tod, selbst ins Gesicht sehen?“ „Findet die Schönheit sich im Blick oder im betrachteten Gegenstand? 7 Demgegenüber entfalten die Blinden mit ihren Fingerspitzen einen Wortschatz, der weit über die Ausdrucks- und Erlebnisfähigkeit der gewöhnlichen Menschen hinausreicht. Die Existenz der Sehenden ist im Vergleich zur Existenz der Blinden farblos und fade.
Matemera skizziert blinde Köpfe und Menschenfiguren zumeist in einem in sich ruhenden Gleichgewicht. Er sagt: „Gott gibt uns viele verschiedene Dinge – auch die Blindheit.“ 8 Wir sollten unsere Begrenztheit akzeptieren, sofern sie Teil unserer Natur ist. Nicht jedoch sollten wir die Bedingungen hinnehmen, die dazu führen, dass ein großer Teil der Menschheit immer noch in Blindheit gehalten wird. Mit der gestalterischen Kraft seiner Hände hat der Künstler deshalb immer wieder versucht, auf einen Zustand hinzuweisen, den es zu verändern gilt.
Michael Drechsler
Anmerkungen:
1 Interview des Autors mit
Bernard Matemera am 11. 10. 1991
2 Sophokles, König Ödipus,
Übersetzung von Kurt Steinmann, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 22
3 vgl. Elias Canetti, Der
Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere, S.
19
4 vgl. José Saramago, Die
Stadt der Blinden
5 vgl. Hervé Guibert,
Blinde, S. 10
6 a.a.O., S. 12
7 a.a.O., S. 25
8 a.a.O., Interview s.o.
Literatur der Antike:
- Aischylos, Sieben gegen Theben
- Homer, Odyssee, 11. Gesang
- Sophokles, Antigone
- Sophokles, König Ödipus
- Sophokles, Ödipus in Kolonos. Mythos vom Ende des blinden König Ödipus.
Literatur der Gegenwart:
- Elias Canetti, Die Blendung
- Elias Canetti, „Simsons Blendung“ in der Autobiographie „Die Fackel im Ohr“.
Beschreibung des Gemäldes „Blindensturz“ von Pieter Bruegel des Älteren
- Elias Canetti, Der
Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere, Ullstein, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977
- Hervé Guibert,
Blinde, (Originalausgabe: „Des aveugles“, 1985), Rowohlt Verlag, Reinbek bei
Hamburg, 1986
- Gert Hofmann, Der Blindensturz. Vom Bild Pieter Bruegels inspirierte
Erzählung.
- José Saramago, Die
Stadt der Blinden, (Originalausgabe: „Esaio sobre a Cegueira“, 1995), Rowohlt
Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1997
Filmklassiker:
- Pier Paolo Pasolini, Edipo Re, 1967
Alle Fotos: Michael Drechsler
Abb. 1 B. Matemera in Tengenenge, Simbabwe, 1991
Abb. 2 "Blind Head" von B. Matemera, Chapungu Sculpture Park, Harare, Simbabwe, 1994
Abb. 3 "Blind Head", Seitenansicht
Abb. 4 Bildhauerwerkzeug von B. Matemera, 1991
Abb. 5 B. Matemera, 1991