von Charly d'Almeida
Assemblage: Holz, Blech, Nägel, Speerspitze, Seil
50 x 39 x 3,5 cm
Provenienz: Charly d'Almeida, Cotonou, Benin 1998
Unverkäuflich
"Hohoanu wo gbia yeyeado“ (1)
Das neue Seil muss man am Ende des alten anknüpfen (Ewe-Sprichwort)
Der Maler und Bildhauer Charly d'Almeida arbeitet ausschliesslich mit Objekten und Materialien aus seinem Heimatland Benin. Für seine Assemblagen benutzt er oft hoch emotional besetzte Gegenstände, die er in eine strenge kompositorische Ordnung fügt. In seinem Werk "Détension" begegnet uns eine begrenzte und zugleich offene Welt. Die Assemblage hat eine relativ geringe Relieftiefe und einen klar strukturierten Aufbau. Ihre Komposition besteht aus einem einfachen Grundgerüst mit zwei vertikalen knapp 50 cm langen Holzplanken und zwei kurzen horizontalen Planken, die einen leeren Viereckraum in der Bildmitte bilden.
Die beiden kleineren Bretter sind durch ein altes grobfaseriges Kokos-Seil miteinander verbunden. Das unten leicht verschlungene und in der Mitte zu einem lockeren Knoten gebundene Seil befindet sich genau in der Mittelachse des Bildes und teilt das Bild mit einem sanft nach links auslaufenden Schwung in zwei Hälften: in eine linke, von einer Speerspitze beherrschte Zone und in einen rechten Bereich, der durch ein rostzerfressendes Stück Metall mit drei Löchern bestimmt wird. Der Augpunkt liegt mitten im Bildzentrum, dort, wo sich der Knoten des Seils befindet.
Im oberen Bildbereich sind die vertikal verlaufenden Planken mit einem fest verdrillten Seil mehrfach umwunden und mit einer Eisenspange fixiert. Auch das mit Rost überzogene Speerfragment ist mit Kordeln befestigt. Die Waffenhülse umgreift schlaufenartig ein harter drahtiger Strick, unten an der Spitze ist wiederum die gesamte Planke mit einer locker gebundenen Kokosschnur umwickelt und läuft zu einer kleinen Schlinge aus. Die knapp 35 cm lange Tüllenspitze aus Eisen hat zwei lange gerade Widerhaken an der Klinge und darüber noch einmal auf beiden Seiten fünf kleinere, leicht gebogene Widerhaken. Über die Klinge verläuft ein Mittelgrad mit X-förmigen Zeichengravuren, die sich zur Spitze hin verkleinern.
Die ganze rechte Bildseite wird vom Motiv des Nagels dominiert. D'Almeida hat in die dünne Eisenplatte in unterschiedlichen Abständen kurze Nägel geschlagen und zur Planke hin umgebogen, dass die Flächenränder wie vernäht erscheinen. An der Seite des Holzträgers ragen waagerecht eingeschlagene Nägel in unterschiedlicher Länge heraus und verlängern das Relief in den offenen Raum hinein. Am unteren Plankenende hat der Künstler einen Riss im Holz mit fabrikneuen silberfarbenen Tackernägeln zusammengehalten. Da auch der Bereich des Bildmittelteils nach unten offen ausläuft entsteht der Eindruck einer gewissen Instabilität.
Insgesamt ist die Arbeit von äußerst sparsamer Farbigkeit. Die warme natürliche Farbe des Kokos steht in einem harmonischen Verhältnis zu den gebrochenen Brauntönen des Rostes und der Holzlatten. Auf den ersten Blick kaum sichtbar sind die wenigen weißen Farbsprengsel auf der linken Planke und die Spuren von lichtblauer Farbe, die am Bildrand verlaufen.
Mit nur wenigen Mitteln verfolgt d'Almeida die Kompositionsstrategie von Raumstabilierung und -destabilierung. Während die Löcher, Risse und Leerstellen von Alter, Brüchigkeit und Offenheit sprechen, schafft das Nageln, Rahmen, Binden und Verbinden Festigkeit, Begrenzung und Halt. Die Nägel richten sich sowohl nach außen und verweisen auf Kontinuität wie nach innen - eine Gegenlenkung, die eher an Ruhe und Beständigkeit denken lässt.
Auch die gestalterische Form und der ästhetische Erfahrungsprozess werden in einem ausgewogenen Miteinander behandelt. Die strenge Zusammenfügung der Objekte und der Wechsel von geschlossenen und nicht geschlossenen Flächen zeigt, dass hier Abstraktion und "figurative" Körperlichkeit in einem wohl austarierten Verhältnis stehen. Das Körperhafte wird für den Rezipienten in seiner sinnlichen Konkretion geradezu physisch über die Materialien spürbar: die Rauhheit der Planken, die Spitzen und Widerhaken des Speeres, die Schrundigkeit des aufgeplatzten Rostes, die raue Anmutung des zerfaserten Seiles. Die Gefahrenzonen mit Speer und Nägeln verlaufen in vertikaler und horizontaler Richtung und schaffen auch hier einen Ausgleich. Diese Bild-Indizien und das Vorherrschen von eher aggressiven Texturen verweisen auf Verwundung, zunächst in einem ganz allgemeinen Sinne. Zentrale Bedeutung scheinen dem Seil mit der Brückenfunktion und dem Knoten in der Mitte zuzukommen.
Ein ähnliches Künstlerkonzept findet sich bei dem italienischen Maler Alberto Burri in der Serie "Sacco". Burri, der während des 2. Weltkrieges als Militärarzt in Nordafrika stationiert und später in einem amerikanischen Gefangenenlager interniert war, hat die Grausamkeiten des Krieges in seinen Collagen mit armen und zerrissenen Materialien, den sogenannten "sacchi" zu fassen gesucht. Die zusammengenähten Stücke von Säcken in braun und grau können als Erinnerungsarbeit und Bewältigungsstrategie gedeutet werden. Was Burri mit d'Almeida in einem übergeordneten Grundgedanken verbindet, ist die Auseinandersetzung mit der abgelagerten Geschichte der Vergangenheit und die Suche nach Sinnbildern für die Verwundungen dieser Welt.
Die Objekte Seil, Speer und Nagel, die d'Almeida in sein Werk "Détension" eingebunden hat, gehören zweifellos zum Motivbestand aller Kulturen und lassen sich deshalb ohne nähere Hintergrundkenntnisse nur schwer semiotisieren. Auch als Erinnerungsstifter sind sie nur dann tauglich, wenn Konsens über den zu erinnernden Gegenstand besteht, andernfalls wird das Objekt zum "leeren Signifikanten", der nur auf sich selbst verweist. (2) Damit sind wir in einem Deutungsdilemma, wäre da nicht d'Almeida selbst, der immer wieder betont, dass sich die traditionellen Eigenheiten seines Heimatlandes Benin und speziell die Vodun-Religion wie ein roter Faden durch seine künstlerischen Arbeiten zieht. Mit diesem Kontextwissen eröffnen sich erweiternde Sichtweisen.
Ein bedeutendes Archiv afrikanischer Religion und Geschichte ist für Charly d'Almeida die Hafenstadt Ouidah im Süden Benins. Der Ort gilt mit seinen vielen Tempeln und Schreinen als Wiege der Vodun-Religion. Historisch ist er mit der Massendeportation von Millionen von Afrikanern verbunden, die von hier aus als Sklaven in die sogenannte "Neue Welt" verschifft wurden. Vom 17. bis zum 19. Jh. war Ouidah eines der größten Zentren des transatlantischen Sklavenhandels. Der Werktitel "Détension" (Gefängnis, Haft) wie das Motiv des Seiles mit dem naheliegenden Gedanken an Fesselung könnten auf diesen Zusammenhang verweisen. Aber auch spirituelle Aspekte, die an eine Überwindung dieses Traumas denken lassen, klingen in der Arbeit an. Hierzu ein kurzer Exkurs, der die formalen Eigenschaften von „Détension“ noch auf einer zweiten Ebene ergänzt.
In der hochkomplexen Vodun Religion mit ihrer unüberschaubaren Zahl von Mächten und magischen Praktiken wird die Welt als ein Kräftefeld erfahren, in der Natur und Materie beseelt sind. Der Kosmos besteht aus zwei untrennbaren Hälften: aus einer oberen, dem unsichtbaren Bereich der Ahnen, Gottheiten und Geister zugeordnete und aus einer unteren, dem sichtbaren Bereich der Erde und der Lebewesen zugehörige. Im Ordnungssystem des Vodun sind Schnittpunkte und Übergänge von größter Bedeutung. Die Welt wird nicht von Gegensätzen bestimmt, sondern bildet ein ausbalanciertes Spektrum von Verbindungen und Vernetzungen im Kontinuum von Raum und Zeit. (3) Der Begriff "Vodu" stammt aus den westafrikanischen Sprachen und seine Herleitung ist nicht vollständig geklärt. In der Sprache der Ewe aus Benin setzt er sich aus "VO", was soviel wie Loch, Unsichtbares, Heiliges bedeuten kann und "DU" zusammen - möglicherweise eine Verstärkung der Silbe "VO". (4)
Plastik des Eisengottes Gu (in Yoruba: Ogùn) im Forêt Sacrée von Ouidah, dem ehemaligen Zentrum des Sklavenhandels von Benin
Die Vodun-Gottheiten werden als Emanationen einer schöpferischen Energie verstanden, denen in der sichtbaren Welt besondere Kompetenzbereiche zugesprochen werden und der menschlichen Intervention zugänglich sind. Ihnen bringen die Menschen Opfergaben, um sie günstig zu stimmen. Der Vodun "Gu" nimmt unter ihnen eine herausragende Stellung an, da er im Bereich des Himmels und der Erde agiert. Gun ist zuständig für alles, was aus Eisen hergestellt wird und ist deshalb allgemein als Gott des Eisens, der Jagd und des Krieges bekannt. Als Krieger vermag er mit seinen Waffen seine Gegner erbarmungslos vernichten, gleichzeitig kämpft er als Beschützer seiner Gemeinschaft unerbittlich für Wahrheit und Gerechtigkeit. Traditionell wird er mit seinem Eisenschwert (gubasa) dargestellt, mit dem er auch das Dickicht der Wälder lichtet, Abfall beseitigt und die Menschen lehrt, mit Eisenwerkzeugen Häuser zu bauen. In Benin wird er deshalb auch als Kreator, der die Zivilisation gebracht hat, verehrt: (5) „The cords and binding used in some of these figures may be a reference to the trauma which resulted from state-induced or supported violence but they are probably more then a reflection of imprisonement, they may be strategies for surviving trauma.“ (6)
Figur eines Hausaltars in Benin
Das Seil spielt in der westafrikanischen Kosmogonie ebenfalls eine bedeutende Rolle. In Mythen der Urzeit diente es den Menschen als direkte Verbindung zum Himmel und zur Erde. In der Vodun-Kunst Benins werden noch heute Kordeln und Seile bei der Verschnürung von Figuren und Objekten, denen übernatürliche Kräfte zugesprochen werden, genutzt (sog."bocie", hergeleitet aus bɔ = machtvoll und cie = toter Körper). Über die Bedeutung des "bocie-bondage" forscht die Professorin für Kunstgeschichte Suzanne Blier und kommt zu dem Resumee, dass der Seilbindung auch eine karthartische Funktion zukommt und mithin eine Strategie für die Überwindung von Gewalttraumata darstellt.
Mit der Kenntnis einiger Aspekte der Vodun-Philosophie, denen hier nur umrisshaft nachgegangen werden konnte, verweisen die Fund-Objekte und Materialien in "Détension" nicht länger zwingend nur auf sich selbst. Aus dieser erweiterten Perspektive liegt sogar der Schluss nahe, dass d'Almeida nicht nur traditionelle Überwindungsstrategien in eine neue Form überführt, sondern auch als der Kreator, der aus Abfall Kunstwerke entstehen lässt, selber eine Art Eisengott-Imitatio vollzieht.
Text: Angelika Sommer
(1) zit. nach: Emmanuel Koffi Noglo, Koloniale
Herrschaft, postkoloniale Demokratur, Magisterarbeit, Universität Göttingen
2008, S. 1 Zusammenfassung
(2) vgl. Jean Baudrillard,
Koolkiller oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 26
(3) vgl. Ulrike Davis-Sulikowski,
Konzeptionen von Natur im Vodun Benins, in: Andre Gingrich/Elke Mader (Hg), Metamorphosen
der Natur, Sozial-anthropologische Untersuchungen, Wien, Köln, Weimar 2002, S.
239.
Zur Kosmogonie s. a. Barthélemy
Zinzindohoue, The Vodun Phenomenon in Benin, Phenomenological Approach, www.afrikaworld.net/afrel/zinzindohoue.htm
(4) vgl. u.a.: Bruno Gilli,
Ouidah, Petite Anthologie Historique, FIT EDITION, Cotonou, 1993, S. 77 und
Suzanne Preston Blier, African Voodoo: Art, Psychology and Power, The
University of Chicago, Ltd. London 1995, p. 38 ff. Blier verweist noch auf
weitere mögliche Bedeutungen, insbesondere der 2. Silbe du oder dun.
(5) vgl. Sandra T. Barnes,
Africa's Ogun: Old World and New, Indiana University Press 2nd ed. 1997, p.2,
53-55 ausführlich auch Awo Fa'lokun Fatunmbi, Gu (Ogun): The God of Iron, p.
1-17, www.mamiwata.com/ogun
(6) Blier, a.a.O. p. 26
aus:
www.vub.ac.be/BIBLIO/nieuwenhuysen/african-art/african-art-collection-statues.htm
Fotos: © Michael Drechsler, 1997